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Wiji Thukul – graswurzellieder | Buchbesprechung und Gedichte

»dann gilt nur ein wort: widerstand!« – graswurzellieder des indonesischen Lyrikers Wiji Thukul

 

Wiji Thukul war Lyriker, Menschenrechtsaktivist, Kulturschaffender, Familienvater. Seit 1998 ist er spurlos verschwunden, mutmaßlich ermordet von indonesischen Militärs. Seine Gedichte aber leben bis heute als kraftvolle Stimme im Kampf gegen Ungerechtigkeit und für Solidarität in Indonesien weiter.

von Sabine Müller

 

Wiji Thukul, im HIntergrund sieht man den Dichter schemenhaft; Quelle: Grafik / regiospectzra Verlag

 

Das Einband in hellen Grauabstufungen wie grob verpixelt zeigt das Halbprofil eines Mannes - für den unwissenden Betrachter kaum zu erkennen - mit einem dicken Pflaster über dem rechten Auge. Beinah allerorts in Indonesien erkennt man darin das Bild Wiji Thukuls. Alex Flor von Watch Indonesia! schreibt in seinem Vorwort des Bandes wie es zu der Verletzung kam: Thukul wurde am 10. Dezember 1995, nachdem er während einer Großkundgebung eines Streiks von etwa 15.000 Textilarbeiter*innen gesprochen hatte, von einschreitenden Militärs verhaftet und mit einem Gewehrkolben geschlagen, dass er in der Folge beinahe das Auge verlor. Zu jener Zeit war Thukul als stimmgewaltiger Widerstandskämpfer gegen das mittlerweile seit fast dreißig Jahren herrschende Suharto-Regime nicht nur in oppositionellen Kreisen weithin bekannt. So zieht Flor zwischen dem 1963 im zentraljavanischen Solo geborenen Thukul den Vergleich zu Ikonen des revolutionären Widerstands in anderen Ländern wie etwa Che Guevara. Das erwähnte Bild von Thukul sowie etliche Zitate aus seinen Gedichten und Liedern – wie auch das in der Überschrift –, die politische Veranstaltungen und Demonstrationen in Indonesien (bis heute) begleiten, befördern diese Ikonisierung. Gleichzeitig betont Flor, dass Thukul selbst keine Führungsfigur gewesen sei oder sich als Anführer einer Bewegung hätte sehen wollen. Vielmehr sei Thukul aus einfachen Verhältnissen stammend ein Mann gewesen, der es vermochte, seine Meinung und seine Gefühle über die herrschenden Bedingungen zum Ausdruck zu bringen. Flor ordnet wichtige Etappen des künstlerischen und politischen Lebens Thukuls zeitlich in Bezug zur Ära des Suharto-Regimes ein und liefert damit vor allem für Leser*innen, die wenig über Indonesien, die Zeit der Neuen Ordnung unter Suharto, der Orde Baru, und über die systematische Verfolgung von Linken und Oppositionellen wissen, eine hilfreiche Orientierung sowie einige wichtige Eckdaten, die sich in Thukuls graswurzelliedern spiegeln.

 

mahnung

 

wenn der machthaber spricht und

das volk sich abwendet

ist vorsicht geboten , denn

die menschen haben mut und vertrauen verloren

wenn sich das volk zurückzieht

die leute miteinander tuscheln

um ihre sorgen zu besprechen

dann , machthaber , sei vorsichtig

und lerne hinhören!

wenn das volk es nicht mehr wagt zu klagen

dann droht gefahr

wenn die rede des machthabers

keinen widerspruch duldet

dann steht es schlecht um die wahrheit

wenn vorschläge unerhört bleiben

stimmen zum schweigen gebracht werden

kritik ohne grund verboten wird

subversiv genannt wird und

eine gefahr für die sicherheit

dann gilt nur ein wort: widerstand!

 

Wiji Thukul, Solo, 1986

peringatan

 

jika rakyat pergi

ketika penguasa pidato

kita harus hati-hati

barangkali mereka putus asa

kalau rakyat sembunyi

dan berbisik-bisik

ketika membicarakan masalah sendiri

penguasa harus waspada dan belajar mendengar

bila rakyat tidak berani mengeluh

itu artinya sudah gawat

dan bila omongan penguasa

tidak boleh dibantah

kebenaran pasti terancam

apabila usul ditolak tanpa ditimbang

suara dibungkam kritik dilarang tanpa alasan

dituduh subversif dan mengganggu keamanan

maka hanya ada satu kata: lawan!

 

Künstlerisches Talent und oppositionelle Haltung

 

Seit seiner Kindheit schreibt Wiji Thukul Gedichte, 1984 erfolgen erste Veröffentlichungen. Thukul bricht aus Geldmangel die Schule ab, schlägt sich als Gelegenheitsarbeiter durch. Schon früh interessiert er sich für Theater, macht bei der Theatergruppe Jagat in Solo mit, lernt Künstler und Kulturschaffende kennen. Mit seiner Frau Siti Dyah Sujirah, mit der er später einen Sohn und eine Tochter bekommt, gründet er das Künstlerstudio Sanggar Suka Banjir. 1993 gründet sich der oppositionelle Künstlerverband Jaker (Vereinigung der Kulturschaffenden des Volkes), der in der Tradition des 1965 verbotenen Kulturverbands Lekra steht und in dem Wiji Thukul den Vorsitz übernimmt. Unter Suharto, der nach dem vermeintlichen kommunistischen Putsch 1965 an die Macht gelangte, setzt sich die Verfolgung gegen Oppositionelle vehement fort. Wie Jaker gelten viele andere linke Gruppierungen als kommunistisch und ihre Mitglieder sind immer wieder Repressalien ausgesetzt. So auch die 1996 gegründete Demokratische Volkspartei (PRD, Partai Rakyat Demokratik), deren Gründung vor allem auf junge Intellektuelle, Aktivist*innen und Student*innen zurückgeht. Thukul wird Mitglied, organisiert Demonstrationen, spricht und singt auf Kundgebungen, gerät mehr und mehr in den Fokus der Machthaber. Für die PRD, die sich für die Interessen der Arbeiter*innen einsetzt, ist Wiji Thukul, selbst aus der Arbeiterschaft, ein Mann mit kraftvoller Stimme. Mit seinen Gedichten und Liedern vermag er seiner Meinung und seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen und vielen Menschen aus der Seele zu sprechen. Mit einfachen Worten erreicht er viele Menschen und mobilisiert auf Demos und Kundgebungen. Die PRD wird nach den Unruhen vom 27.7. 1996 vom Regime Suharto aufgelöst 1, viele Aktivist*innen begeben sich auf die Flucht bzw. tauchen unter. In den zwei Jahren darauf werden 23 Aktivist*innen entführt. Neun Überlebende schildern, wie sie durch Militärs entführt, gefangen gehalten und gefoltert wurden. 14 bleiben bis heute verschwunden. Auch Wiji Thukuls Spuren verlieren sich 1998 – kurz vor Suhartos Sturz und dem Ende der Orde Baru.

 

Kraftvolle und poetische Stimme des Widerstands

 

Was nach Thukuls Verschwinden bleibt, sind die unbeantworteten Fragen seiner Familie, seiner Freunde und politischen Mitstreiter – und seine Texte. Die Zeit der Reformasi, die Ära nach Suhartos Sturz im Mai 1998, öffnet den Weg für eine offene Auseinandersetzung mit dem 30 Jahre währenden Regime. Im Juni 2000, also wenige Jahre nach Wiji Thukuls Verschwinden, erscheint die indonesische Erstausgabe einer Zusammenstellung seiner graswurzellieder. Eine um einige Gedichte erweiterte Ausgabe wird von Gramedia publiziert. Die klare Sprache der Gedichte, ihre Kraft sowie ihre politische und gesellschaftliche Relevanz in und für Indonesien veranlasste schließlich auch den in Berlin ansässigen regiospectra Verlag, die graswurzellieder in deutscher Übersetzung zu publizieren. Der rund 200 Seiten starke Band, in dem etwa 180 graswurzellieder des Lyrikers aus einem Zeitraum von 1983 – 1997 zusammengestellt sind, zeigt die Bedeutung und Relevanz, die Thukuls Texte weit über Indonesien hinaus und außerhalb des zeitlichen Rahmens der Suharto-Ära haben und, wie Alex Flor bemerkt, »internationale Aufmerksamkeit verdienen«. Auf der Vorlage der indonesischen Originalausgabe beruht die Einteilung des Bandes in sieben Bücher. Der Berliner Verlag hat zu Anfang eines jeden Buches ein Gedicht im indonesischen Original grau unterlegt vorangestellt. Die deutsche Übersetzung folgt im Buch unregelmäßig einige Seiten später, ohne dass dies kenntlich gemacht ist. Die Auswahl des jeweiligen ersten Gedichts eines Buches wurde von regiospectra vorgenommen, wobei Textlänge, aber auch persönliche Präferenz ausschlaggebend waren. Die Gedichte sind zeitlich nicht chronologisch geordnet, einige sind, entsprechend der indonesischen Originalausgabe, undatiert. Thukul hat für die Mehrzahl der Texte einen Entstehungsort notiert, es sind javanische Städte, wie Bandung, Semarang, Jakarta oder Orte in Thukuls Heimatstadt Solo.

 

in mir ist ein wald

 

in mir ist ein wald

in dem wachsen dornen und früchte

ein wald mit unterholz und irrwegen

in der dunklen höhle wird ein schwein geboren

das mir ähnlich sieht

auch ein elefant und ein pferd

in mir kriechen schlangen

manchmal gleiche ich einem krokodil

das seine augen versenkt

mit meinem körper und meinem herzen

versinke ich im morast

voller mücken , blut und gestank

in mir ist ein wald

in dem wird immer aufs neue ein jäger geboren

der die tiere verfolgt und vernichtet

der mich beherrschen möchte

manchmal sind es die tiere , die sterben

doch oft wird der jäger getötet

in mir ist ein wald

in dem wird immer wieder ein jäger geboren

der sucht

mich

 

Wiji Thukul 

di dalam diriku ada hutan

 

di dalam diriku ada hutan

di dalam hutan tumbuh duri dan buah-buahan

belukar dan jalan-jalan menyesatkan

di dalam gua gelap lahirlah babi

yang mirip wajahku

juga gajah dan kuda

ular-ular melata di dalam diriku

aku kadang mirip buaya yang membenamkan mata

tubuh dan juga hatiku sendiri ke dalam rawa-rawa

penuh nyamuk dan berdarah dan bau lumpur

di dalam diriku ada hutan

di dalam hutan itu selalu lahir seorang pemburu

menumpas binatang Yang coba menguasaiku

kadang binatang yang mampus

tetapi tidak jarang pemburunya pun mati terbunuh

di dalam diriku ada hutan

di dalamnya selalu lahirlah seorang pemburu

mencari

aku

 

Der Übersetzer Peter Sternagel – bemerkenswerterweise auf dem Umschlag des Bandes genannt – hat bereits eine Reihe von Werken indonesischer Literatur ins Deutsche übertragen, darunter die Romane Saman und Larung der Autorin Ayu Utami, Die Regenbogentruppe und Der Träumer von Andrea Hirata sowie Ein Hauch von Macht von Umar Kayam. Von 1988 bis 1996 war Sternagel als Leiter des Goethe-Instituts in Bandung und verfügt neben seiner indonesischsprachigen Expertise über fundierte Kenntnisse über politische und gesellschaftliche Verhältnisse des Landes. Als erfahrener Übersetzer indonesischer Literatur, als Kenner des Landes und als Fan der Texte Thukuls hat sich Sternagel an die graswurzellieder mit spürbarem Einfühlungsvermögen gewagt. Insgesamt beschäftigte er sich über einen Zeitraum von sechs Jahren mit den über 180 Liedern Thukuls. Er orientiert sich bei der Übertragung ins Deutsche sprachlich ganz nah am Original des Autors und würdigt damit dessen klare und unprätentiöse, aber dennoch poetische sowie rhythmische Sprache. In einer Vielseitigkeit der Form – mal nur in Stichworten, dann wieder in Prosadichtung – spricht Thukul von der Dringlichkeit, sich gegen Willkürherrschaft, gegen Armut, gegen Gewalt zu stellen. Er fordert Solidarität und Gerechtigkeit und prangert in schnörkelloser Bildhaftigkeit politische Zustände und gesellschaftliche Missstände an. Sein Leben in prekären Verhältnissen, aus der Zeit der Verfolgung machen deutlich, welcher Verfolgung und Bedrohung seitens des Suharto-Regimes er – wie viele andere Regimekritiker – ausgesetzt war. In vielen Texten findet sich ein örtlicher Bezug und dennoch ließen sich seine graswurzellieder auf Verhältnisse in anderen Regionen der Welt und auf andere zeitliche Spannen mühelos übertragen. Einzig fehlen Hinweise auf den Übersetzer im Band.

 

Bei der Inhaltsübersicht, in denen die meist sachlich klingenden Überschriften der einzelnen Lieder unterteilt auf die sieben Bücher aufgeführt sind, mag man an eine Sammlung Brechtscher Gedichte erinnert werden. Und auch manches Gedicht ließe sich mit der Dichtung Brechts und deren Strahlkraft vergleichen. Die Forderung nach Veränderung, Kritik an der Regierung und an der Herrschaft, das Recht wird in Frage gestellt, und all dies ist seine lyrische Kampfansage gegen das Regime. »Aus der Graswurzel-Perspektive« betrachtet sind es menschenfreundliche, zugewandte Worte, mit denen Thukul sich für Solidarität, für Gerechtigkeit einsetzt.

 

Der Band graswurzellieder ist ein Buch für den Küchentisch, für den Schreibtisch, für die Reisetasche und für das gemeinsame Lesen mit Freunden oder Kolleginnen; man mag es immer wieder in die Hand nehmen, um neue sprachliche Entdeckungen zu machen und sich das Gesagte ins Bewusstsein zu rufen und sich klar zu machen, was Leben im Widerstand bedeutet. In jeder Zeile mag sich eine tiefere Bedeutung finden, ein Bezug zur persönlichen, individuellen Situation Thukuls, seiner Familie, seinen Freunden, seinen politischen und künstlerischen Weggefährten. Gleichzeitig schärft es den Blick für die gesellschaftliche, politische Situation der Gesellschaft Indonesiens von heute, aber auch in anderen Teilen der Welt. So wird das Ikonenbild des Umschlags mit Inhalt gefüllt: zeitlos und international.

 

 

 

Wiji Thukul, graswurzellieder, aus dem Indonesischen von Peter Sternagel.

 

Erschienen im regiospectra Verlag Berlin 2018, 214 Seiten, kart., format 225 x 155 mm, ISBN 978-3-947729-07-4, Preis 24,90 Euro

 

Copyright der indonesischen Originalausgabe: Nyanyian Akar Rumput (The Grassroot Songs) ©Wiji Thukul, 2015 


Peter Sternagel | ist 1933 in Waldenburg (Schlesien) geboren. Nach der Schauspielausbildung in München und Berlin war er am Theater tätig und spielte in einigen Filmen mit, nahm dann ein Geschichtsstudium auf, das er 1965 mit der Promotion zum Dr. phil. abschloss.

Als Mitarbeiter des Goethe-Instituts war er in verschiedenen Aufgaben in Indonesien und Japan tätig, zuletzt als Institutsleiter in Bandung.

Aus dem Indonesischen übersetzte er Romane von Ayu Utami, Umar Kayam, Andrea Hirata sowie die Gedichte von Wiji Thukul.

 

lied des becakfahrers

 

wenn der ölpreis steigt

schimpft die mutter unablässig mit dem vater

wenn der ölpreis steigt

werden auch die chilischoten teurer

und alles , was man braucht zum leben

und so bleibt den becakfahrern

nichts andres übrig , als sich geld zum wucherzins zu pumpen

dann bedrängen sie die blutsauger

von der bank: zahlt den kredit zurück!

wer wird nicht wütend

wenn die kosten für das leben

einen ständig drücken

fünfzehnhundert für den einkauf

das ist das höchste , was der vater geben kann

wer kann davon genug besorgen!

währenddessen wächst die not

die frau schimpft:

wir haben schon vier kinder

mit dem schulgeld sind wir arg im rückstand

der kleine penceng hat brechdurchfall

und ich bin schon wieder schwanger

am dienstag brauchen wir noch extrageld

für seblohs hochzeit

wenn die preise weiter steigen

für petroleum und das benzin

auch wenn es heißt , es wäre kluge politik

will ich von aufbau und entwicklung nichts mehr hören

mein schicksal

ich wende mich an dich , o fürst , und an dich , o gott

mein schicksal ist ein spielball in der hand der mächtigen

brennen muss die lampe , dazu braucht sie öl,

der bauch will satt werden , dazu braucht er essen

doch bin ich nur ein becakfahrer

und wenn das becak , schatz der familie

heimkommt ohne geld

dann fängt die mutter wieder an , den vater zu beschimpfen

 

Wiji Thukul, Solo, 1984 

 

 

  


Anmerkungen im Text

 

PRD | Die Partai Rakyat Demokratik (PRD) wurde nach den Unruhen vom 27.7. 1996 vom Regime Suharto aufgelöst, ihre Führer verhaftet. Nach Suhartos Rücktritt ist die PRD wieder politisch aktiv, hat aber keinen Sitz im Parlament.

 

Indonesische Erstausgabe | Die Erstausgabe von Wiji Thukuls Gedichten erschien unter dem Titel Aku Ingin Jadi Peluru im Juni 2000 bei Indonesiatera in Magelang, die zweite Auflage ebenda 2004. Eine Neuausgabe unter dem Titel Nyanyian Akar Rumput wurde bei PT Gramedia, Jakarta 2014, verlegt und enthielt weitere 31, bisher unveröffentlichte Gedichte.

 

 

 

 

Kategorie: Kultur